Freimessen beim AKW-Abbau
Atommüll und die menschliche Gesundheit
Beim Abriss stillgelegter Atomkraftwerke fallen neben stark strahlenden Komponenten auch große Mengen Stahl und Beton an, die nur geringfügig radioaktiv kontaminiert sind. Werden bestimmte Grenzwerte unterschritten, dann sollen die Materialien auf Hausmülldeponien gelagert oder sogar in den normalen Wirtschaftskreislauf eingespeist werden können.
156.500 Tonnen Gebäudemasse
Den mengenmäßig größten Teil beim Abriss eines Atomkraftwerks machen die Gebäudemassen aus. Während sich etwa für Biblis A die aktivierten Massen (Reaktordruckbehälter, biologischer Schild etc.) nach Angaben des Betreibers auf ungefähr 4.650 Tonnen und die kontaminierten Massen (Rohrleitungen, Wärmetauscher, Schleusen etc.) auf ca. 11.400 Tonnen summieren, geht es bei den Gebäudemassen diesen Angaben zufolge um rund 156.500 Tonnen (91%).
Freigabe – Mülldeponien und Heizkörper
Bei diesen geschätzten 156.500 Tonnen handelt es sich um die Menge, die so gering kontaminiert ist, dass sie im rechtlichen Sinn nicht mehr als Atommüll gelten soll. Für diese Materialien ist eine „Freigabe“ nach § 29 der Strahlenschutzverordnung vorgesehen. Hierfür erfolgen gemäß § 29 Abs. 3 der Verordnung so genannte „Freimessungen“.
Die Möglichkeit der Freigabe hatten die Atomkonzerne schon vor etlichen Jahren gegenüber der rot-grünen Bundesregierung durchgesetzt. Mit der am 1. August 2001 in Kraft getretenen novellierten Strahlenschutzverordnung wurde das ermöglicht.
Freigemessene Materialien sollen beispielsweise auf Hausmülldeponien gelagert oder auch in den normalen Wirtschaftskreislauf eingespeist werden. So könnten sich beispielsweise freigemessene Metalle aus Atomkraftwerken in Heizkörpern wiederfinden.
Das Zehn-Mikrosievert-Konzept
Die Freigabewerte der Abbruchmaterialien (Aktivität je Masse bzw. Fläche) wurden mit dem Ziel einer Dosisbelastung von maximal 10 Mikrosievert (μSv) pro Einzelperson und pro Jahr festgelegt. Für die staatlichen Strahlenschützer handelt es sich hierbei um eine „marginale“, also um eine unbedeutende zusätzliche Dosis. Sie verweisen auf die natürliche Strahlenexposition, die in Deutschland auf rund 2.400 μSv (2,4 mSv) beziffert wird. Angesichts anderer Risiken und anderer Noxen, „denen der Mensch in einer zivili-sierten oder technisierten Gesellschaft“ ausgesetzt sei, komme es auf diese zu-sätzliche Strahlendosis von 10 μSv nicht an. Die Rede ist von einer „Marginalitäts-schwelle“.
Dies wird auch damit begründet, dass schließlich allgemeine Grenzwerte für die zusätzliche Strahlenbelastung in Höhe von 1 mSv (1000 μSv) für die Normalbevölkerung und 20 mSv (20.000 μSv) für den beruflichen Bereich zu akzeptieren seien.
Wenn sehr viele Personen mit einer sehr geringen Strahlendosis belastet werden, verursacht das eine nennenswerte Kollektivdosis, die eine gewisse Zahl an Krebsfällen zur Folge hat. Es ist hierbei insbesondere auch die Frage, ob dem Zehn-Mikrosievert-Konzept tatsächlich realitätstaugliche Annahmen zugrunde liegen.
Deponiearbeiter beispielsweise könnten unter Umständen erhebliche Strahlendo-sen erhalten, wenn sie von Mehrfachbelastungen betroffen sind. Der Physiker Wolfgang Neumann (INTAC Hannover) weist darauf hin, dass u.a. in den „Deponiemodellen“ rechnerisch nicht berücksichtigt worden sei, dass man 20 Atomkraft-werke nahezu gleichzeitig zurückbauen will.
Kontaminierte Chemieabwässer durch Freimessen
Ein weiterer Aspekt ist, dass vor dem Freimessen oftmals Dekontaminationsmaßnahmen durchgeführt werden. In Biblis A rechnet RWE beispielsweise damit, dass 3.950 Tonnen der Gebäudestrukturen „mittels verschiedener Dekontaminationsverfahren gereinigt“ werden müssen, bevor sie freigegeben werden können. So aber werden für die Dekontamination zusätzliche Materialmengen (Chemikalien) in die Anlage eingebracht, die dadurch selbst zu flüssigem Strahlenmüll werden, der ent-sorgt werden muss. Das sind die so genannten Sekundärabfälle.
Atomkraftgegner wie Erhard Renz gehen inzwischen davon aus, dass radioaktiv verseuchtes Wasser, das bei der Dekontamination in Biblis anfällt, in den Rhein geleitet werden soll. In diesem Zusammenhang ist vermutlich die geplante Verlängerung der Abwasserrohre in den Rhein zu sehen, was der Verdünnung des belasteten Wassers dienen dürfte.
„Strahlentürken“
Insbesondere aber gilt die Sorge den Arbeitern, die den Abriss der stillgelegten Atommeiler durchführen müssen. Innerhalb der Atomlobby ist, wie man von Insidern hört, von „Strahlentürken“ die Rede, von Hilfskräften und Leiharbeitern, die bei den gefährlichsten Arbeiten in den kontaminierten Bereichen eingesetzt werden.
Sie sind es, die beim Abriss der Atomkraftwerke die größten Strahlendosen kassieren werden. Sie tragen bei dem von den Atomkonzernen beschlossenen Projekt AKW-Rückbau mutmaßlich das größte Erkrankungsrisiko.
Quelle: Artikel von Henrik Paulitz, IPPNW-Forum 141/2015
amatom27
Stille Freisetzung radioaktiver Materialen in die Umwelt
von Thomas Dersee
Hibakusha weltweit
Eine Ausstellung der IPPNW
Die Ausstellung zeigt die Gesundheits- und Umweltfolgen der „Nuklearen Kette“: vom Uranbergbau über die Urananreicherung, zivile Atomunglücke, Atomwaffentests, militärische Atomunfälle, Atombombenangriffe bis hin zu Atommüll und abgereicherter Uranmunition.
Motive zum Thema „Atommüll”:
- Chasma-Bucht, Russland
- Ezeiza, Argentinien
- Hanford, USA
- La Hague, Frankreich
- Mailuu-Suu, Kirgisistan
- Nowaja Semlja, Russland
- Radium Hill, Australien
- Saskatchewan, Kanada
- Windscale/Sellafield, Großbritannien
- Witwatersrand, Südafrika